Die Eintrittskarte

»Warten wir auf Sigrid«, sagte Milan.

Sie aßen eine Kleinigkeit und tranken viel Kaffee. Irgendwann tauchte Sigrid auf. Sie schleppte zwei schwere Plastiktüten. »Ich habe Gerda gebeten, die Pension zu machen. Ich habe alles dabei.«

»Was hast du denn alles dabei?«, fragte Grau neugierig.

»Krachmacher«, erläuterte Milan. »Es sind so Kanonenschläge, wie man sie bei euch an Silvester knallen lässt. Ich habe sie selbst gebaut, auch selbst gewickelt. Sie sind etwas stärker als die Silvesterknaller und sie schmeißen außerdem einen grellen Blitz. Wenn du sie wirfst, musst du die Augen zumachen, sonst bist du viele Minuten lang blind.«

»Blendgranaten also«, folgerte Grau. »Was ist, wenn so ein Ding zwischen meinen Beinen hochgeht?«

»Nicht so gut«, sagte Sigrid betont harmlos. »Heh, krieg ich einen Schampus?«

»Sie haben einen ganz kurzen Zünder. Maximal zehn Sekunden. Du musst also gut aufpassen.« Milan war stolz auf sein Geheimpatent.

»Verdammt noch mal, ich bin doch kein Stadtguerillero«, schnaubte Grau. »Was hast du eigentlich vor?«

»Ich weiß es noch nicht genau, ich muss erst mal sehen«, antwortete Milan vielsagend.

»Für jeden einen Hammer, für jeden einen großen und einen kleinen Schraubenzieher«, sagte Sigrid.

»Wenn ich mein Glas ausgetrunken habe, sollten wir langsam mal gehen. Dann könnten wir um sieben Uhr ins Haus. Wie viele Leute hat Mehmet da?«

»Wir werden sie nicht zählen«, antwortete Milan.

»Habt ihr schon oft so was gedreht?«, fragte Grau verwundert. »Ihr schwatzt so daher, als würdet ihr das jeden Tag machen.«

»Es ist meine Deutschlandpremiere.« Milan trank aus und sagte: »Zahlen, bitte.«

Sie nahmen ein Taxi, und Sigrid nannte ihr Ziel: Ecke Amrumer- und Seestraße. Sie schwiegen. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel klarte auf, Westwind schob die Wolken beiseite, es würde ein heißer Tag werden.

»Wir sollten heute Abend ganz groß essen gehen«, schlug Grau vor. »Ich lade euch ein.«

»Bargeld wäre mir lieber.« Sigrid reagierte schnippisch. »Ich brauche neue Klamotten. Ich habe nichts mehr zum Anziehen.«

»Dann gibt es ein Essen und Klamotten«, entschied Grau souverän.

»Was machst du, wenn du hier fertig bist?«, fragte Milan.

»Ich weiß es nicht«, sagte Grau. »Vielleicht gehe ich zu einer Tageszeitung irgendwo an der polnischen Grenze, vielleicht mache ich auch ein Jahr Pause. Ich weiß es noch nicht.«

»Wir sind da«, sagte der Fahrer.

Sie gingen in die Lütticher Straße hinein.

»Es sind die Blocks links«, erklärte Milan. »Ziemlich alt und vergammelt. Hier wohnen viele Arbeitslose, Kinderreiche und so. Kein Geld da. Achtet da vorne links auf die Einfahrt. Die geht auf den Innenhof. Da stehen drei Autos mit Leuten drin. Genau davor. Das sind Mehmets Leute.

Die Parallelstraße ist die Antwerpener. Dort wird es auch eine Einfahrt geben, da werden auch Leute stehen. Jetzt kommt die Brüsseler, die nächste nach links und rechts ist die Ostender Straße. Die alten Männer bei Mehmet haben mir gesagt, dass unser Haus ziemlich genau in der Mitte des Blocks liegt. Rechts in dieses Tor, bitte.«

Sie stellten sich unter den Bogen. Es waren nur sehr wenig Menschen unterwegs, die Straßen lagen still in der Sonne. »Hast du den Whiskey?«, fragte Milan.

»Na sicher«, sagte Sigrid und fummelte in einer ihrer Plastiktüten herum. Sie schraubte die Flasche auf und nahm einen großen Schluck. Einen Teil schluckte sie hinunter, den Rest spuckte sie aus. Dann drückte sie die Flasche Milan in die Hand, der dasselbe machte.

»Warum denn das?«, fragte Grau.

»Wenn du betrunken bist, machst du niemand Angst«, erklärte Milan. Er schüttete Sigrid und Grau Whiskey auf die Kleidung. »Leute, die morgens betrunken nach Hause kommen, sind friedliche Leute. Ihr müsst also viel lachen, blöde lachen.«

Es war Malzwhiskey, er roch aufdringlich und scharf, aber er zauberte einen kleinen, beruhigenden warmen Ball in Graus Bauch.

»Täubchen, dein Trenchcoat stört mich«, sagte Milan. »Besser, du ziehst ihn aus, wenn du losgehst.«

»Wohin geht sie denn?«, fragte Grau nervös.

»Sei geduldig«, beruhigte ihn Milan. »Sie geht mit ihren Plastiktüten bis zur Ecke der Ostender Straße. Dort biegt sie links ab und geht weiter, bis sie zu unserem Haus kommt. Ist die Tür verschlossen, macht sie Riesenlärm, denn sie ist ja betrunken. Falls Klingeln da sind, wartet sie, bis jemand ihr aufmacht. Dann geht sie rein. Sie wird so tun, als lebte sie im Haus, oder gibt vor, Freunde treffen zu wollen. Irgendetwas total Harmloses.«

»Und wenn sie drin ist?«

»Macht sie gar nichts«, bestimmte Milan. »Hörst du, Täubchen, du tust gar nichts! Du suchst dir irgendeine Bleibe, aber du gehst auf keinen Fall weiter als bis zum zweiten Stock. Irgendjemand wird dich aufnehmen.«

»Und dann?« Grau leuchtete der Plan noch nicht ganz ein.

»Dann läuft die Zeit. Wir haben es jetzt sechs Uhr fünfzig. Wir gehen um sieben los. Grau, du gehst in das letzte Haus auf der linken Seite der Lütticher Straße. Irgendwie kommst du rein. Klingel irgendwo. Sonst Schraubenzieher. Im Treppenhaus gehst du sofort in den Keller. Ist der verschlossen, setzt du den Schraubenzieher an und …«

»Sei nicht kindisch.« Grau war beleidigt. »Du bist zwar der Soldat, aber deswegen bin ich kein Idiot. Sind die Keller unter den Häusern miteinander verbunden?«

»Ich denke, ja. Deutsche Leute sind gründliche Leute. Brandschutz und Katastrophenschutz verlangen durchgehende Keller. Dazwischen kann zwar eine Tür sein, aber sie wird dich nicht hindern. Ich mache ganz genau dasselbe von der Antwerpener Straße aus, klar? Mein Weg wird zwei Häuser länger sein, also etwa fünf bis zehn Minuten.

Egal, was passiert: Jeder von uns haut ab, wenn irgendein Hindernis auftaucht, was er nicht in den Griff kriegt. Keiner unternimmt irgendetwas, ehe er nicht genau weiß, dass die anderen beiden im Haus sind. Nix Soloauftritte, klar? Wenn da Kids sind, Penner und andere, ohne Geld, ohne Job, werden sie jede Nacht lange feiern. Also wacht das Haus erst sehr spät auf. Wenn wir uns im Haus begegnen, müssen wir so tun, als kennen wir uns nicht.« Er grinste Grau an. »Jeder ist der Schatten des anderen.«

»Wirst du schießen?«

Milan schüttelte den Kopf. »Nein. Im vierten Stock vielleicht. Jetzt Hammer und Schraubenzieher einstecken, jeder vier Knaller. Sigrid, du auch. Und denk dran, Täubchen: Wenn du einen anzündest, dann hast du nur ein paar Sekunden Zeit, um zu verschwinden, und mach die Augen zu.«

»Was zum Teufel tun wir, wenn die Bullen kommen?«, fragte Grau.

»Bullen?« Milans Mund wurde schmal. »Ich wette mit dir, dass hier schon überall Zivilstreifen rumstehen. Sie warten ab, was Mehmets Leute tun. Sie werden sich nicht einmischen, außer, Sundern bittet sie darum.«

»Wann treffen wir uns? Und wo? Im Treppenhaus?«

»Auf keinen Fall vor acht Uhr«, entschied Milan. »Also: erstes Treffen Punkt acht im Erdgeschoss vor der Eingangstür. Dann überlegen wir, wie wir weitermachen. Ist das okay? Noch Fragen?«

Sigrid zog ihren Trenchcoat aus und stopfte ihn in eine der Plastiktüten. Sie trug einen scheußlichen weißen Häkelpullover und einen sehr engen roten Rock, dessen Reißverschluss kaputt war. Sie stakste auf unendlich hohen feuerroten Schuhen daher, und bevor sie nun losging, verwüstete sie gekonnt ihr Make-up, indem sie sich mit einem Tempotaschentuch im Gesicht herumwischte. Sie sah nicht nur betrunken aus, sie bot das perfekte Bild einer erfolglosen, längst zu alt gewordenen Hure, die nach einer wenig einträglichen Nacht nur noch einen Wunsch hatte, nämlich ins Bett zu fallen.

»Hast du Angst, Täubchen?«, flüsterte Milan sanft und streichelte ihren Kopf.

»Es geht.« Sie lächelte. »Du bist ja da. Versprich mir, dass du nicht mutiger bist als unbedingt nötig.«

»Er wird ein grandioser Feigling sein«, versprach ihr Grau.

Sie stöckelte los, machte schon nach zehn Metern eine sanfte, unübersehbar weite Kurve und summte in übertrieben hoher Tonlage etwas Romantisches vor sich hin.

»Du kannst stolz auf sie sein«, sagte Grau anerkennend.

»Das bin ich auch«, antwortete Milan. »Mach’s gut und versuche, so schnell wie möglich in das Haus hineinzukommen. Anschließend hast du Zeit.«

Grau machte sich auf den Weg. Betont langsam überquerte er die Fahrbahn und kickte eine Coladose vor sich her. Auf dem gegenüberliegenden Gehweg angekommen, schlenderte er die Straße hinauf. Er pfiff vor sich hin und warf einen raschen Seitenblick auf die drei Autos am Straßenrand, die mit jeweils vier Mann voll besetzt waren. Das waren todsicher Mehmets Leute.

Mehmet wird eine ganze Armee hier haben, dachte Grau. Die Peruaner haben keine Chance, aus dieser Straße unbehelligt wieder rauszukommen, und Mehmet hat keine Chance, sie eben mal locker außer Gefecht zu setzen.

Die Männer in den Autos beachteten ihn kaum. Sie musterten ihn nur beiläufig und rauchten schweigend.

Schließlich entdeckte er das von Milan beschriebene Haus und fasste den schweren Schraubenzieher in seiner rechten Jackentasche fester, aber er brauchte ihn gar nicht. Die Tür war nur angelehnt. Die Klingelschilder verrieten ihm, dass in jeder Wohnung mindestens drei Parteien hausten, und die meisten Namen waren lediglich mit Kugelschreiber auf ein Stück Papier gekrakelt.

Er ging in das Haus hinein, ohne sich umzusehen. Das Treppenhaus war kühl, eng und dreckig. Auf dem ersten Absatz lagen drei Fahrradwracks. An die linke Wand hatte jemand gesprüht: Jesus war ein Ausländer! Kein einziges Geräusch war zu hören.

Die uralte Tür zum Keller war in der Mitte auseinandergebrochen und hing nun als armseliges Trümmerstück in ihren Angeln. Es quietschte grässlich, als er sie beiseiteschob. Er drehte am Lichtschalter, aber der funktionierte nicht, und Grau nahm ein Gasfeuerzeug zu Hilfe. Jemand hatte an die Wand gesprayt: Wenn du gut vögeln kannst, sparst du hier viel Miete! und Hitler war gar nicht so ohne! Es roch nach Urin, irgendwo gluckerte Wasser.

Er ging langsam vorwärts und tastete sich nach rechts durch einen sehr schmalen Gang zwischen Holzverschlägen aus einfachen Dachlatten, dahinter vermutete er das übliche alte Gerümpel, das keiner mehr haben wollte.

Er horchte in sich hinein. Sein Atem ging eindeutig zu schnell und er musste sich eingestehen, dass kalte Angst in ihm hochkroch. Er blieb stehen, holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Die Erregung blieb. Er hockte sich hin und schloss die Augen, um sich auf die Geräusche des Hauses zu konzentrieren.

Eben noch hätte er es als totenstill bezeichnet, da er aber nun auf all das lauschte, was vorher unhörbar geblieben war, nahm er deutlich den immer schneller werdenden Atem des Tages wahr.

Jemand ging im Treppenhaus nach unten, mit sehr harten Schuhen. Draußen auf der Straße hielt ein Auto, eine Tür ging auf, jemand rief: »Kalli, mach schnell, wir müssen los!« Dann rauschte es in der Kanalisation, ein Kind fing an zu weinen und wurde zur Ruhe gebracht, eine Frau jammerte weinerlich: »Ich kriege die U-Bahn nicht mehr.«

Grau konzentrierte sich auf seine rechte Schulter, er schloss die Augen und zwang sich behutsam, erst flacher zu atmen, dann sehr tief. Er fühlte das Blut sehr warm und lebendig durch die Schulter fließen und verfolgte es bis in seinen Ellenbogen, dann in die Hand.

Er spürte jeden Finger, fühlte befriedigt, wie sein Atem langsamer wurde. Er folgte erneut dem Blutstrom bis in den Bauch. Dann stand er auf und reckte sich zur Decke. Er stieß mit den Händen an schmutzig-rauen Beton und legte die Fingerspitzen dagegen. Er fühlte das Material. »Du kannst jetzt gehen«, sagte er laut zu sich selbst.

Das Vorhängeschloss vor der letzten Kellerkammer nach links war geknackt, wahrscheinlich von einem Einbrecher. Er ging hinein und tastete die Wand zum Nachbarhaus ab. Sehr vorsichtig klopfte er mit den Knöcheln dagegen. Er spürte genau, an welchen Punkten die Wand hauchdünn wurde.

Er nahm den Hammer und schlug mit aller Kraft zu. Der Hammer fuhr glatt hindurch und machte nicht einmal sonderlich viel Krach. Die Wand bestand aus sehr dünnem Material, das ihn irgendwie an Styropor erinnerte. Schnell verbreiterte er das Loch mithilfe seines rechten Fußes, bis er schließlich hindurchschlüpfen konnte.

Als er im Nachbarkeller stand, bemerkte er erleichtert, dass die Fensterschächte hier größer waren und mehr Licht hereinkam. Das hier war kein Verschlag, sondern ein großer Raum. Offensichtlich war er früher einmal in viele Verschläge unterteilt gewesen, aber wahrscheinlich hatten die Bewohner die Trennwände herausgerissen, um das Holz zu verfeuern, aus denen sie vermutlich bestanden hatten. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos, zwei, drei oder mehr Mietergenerationen hatten achtlos ihren Plunder hinterlassen.

Grau suchte geduldig nach einer Platte oder einem Stück Pappe, um das Loch in der Mauer zumindest vor flüchtigen Blicken zu verbergen. Der penetrante Gestank von Kot, Urin, Essensresten, Marihuana und Tabak stach ihm in die Nase.

Seine Augen gewöhnten sich langsam an das schummrige Licht. Er entdeckte eine alte Matratze und gleich daneben das Kopfende eines alten Bettes. Er stellte die Matratze schräg vor das Loch, das schwere Brett stemmte er hochkant über Eck dagegen, denn es durfte nicht zu gewollt aussehen, nicht wie geplant.

Er lauschte angespannt und wartete geduldig, bis er in der Lage war, etwas wahrzunehmen. Er war jetzt ganz gelassen. Ein verdächtiges Geräusch hörte er nicht. Irgendwo rauschte eine Klospülung, daneben plärrte ein Radio. Aber er war nicht sicher, ob es wirklich aus diesem Haus kam.

Dann plötzlich Atemzüge neben ihm, deutlich, unüberhörbar. Einen Augenblick lang glaubte er, er wäre lediglich überreizt, hörte aber dann eindeutig einen fremden Atem. Er bewegte sich ganz ruhig vorwärts, bemühte sich aber nicht, besonders leise zu sein. Wer auch immer da atmete, es hörte sich an, als ob er schliefe, obwohl Grau es kaum glauben konnte, dass da jemand trotz des Hammerschlages, mit dem er die Mauer durchstoßen hatte, gemütlich weiterpennte.

Grau strich an einem Winkel vorbei, in dem es unbeschreiblich stank. Vermutlich diente der als Toilette. Dann nahm er dahinter eine alte blaue Matratze mit eingewebten Blumen wahr. Darauf einen Deckenhaufen. Und dieser Deckenhaufen bewegte sich!

Es waren keine unruhigen, keine hektischen Bewegungen, dieser Jemand räkelte sich ganz gemächlich. Grau überlegte einen Moment, ob er einfach weitergehen sollte. Dann sagte er sich energisch, dass schließlich er der Angreifer war. Er zog die oberste Decke mit einem schnellen Ruck herunter.

Es waren zwei, und sie waren beide nackt. Sie lagen da mit ineinander verschlungenen Armen und Beinen, als könne der eine nicht ohne den anderen sein. Ihre armseligen schmalen Körper schimmerten ganz weiß und zeigten eine schmerzliche Verletzbarkeit. Sie waren noch halbe Kinder, Grau schätzte sie auf vielleicht fünfzehn oder noch jünger.

Er fragte grob und gewollt autoritär: »Was macht ihr denn hier?«

Das Mädchen hatte einen wilden, grellroten Irokesenschnitt, die Schminke in ihrem Gesicht war völlig verschmiert. »Heh, was willst du denn? Willst du eine Nummer?«

»Nein«, gab Grau verblüfft zurück.

Der Junge hatte merkwürdig helle Augen und trug den Hahnenkamm auf dem ansonsten glatt rasierten Schädel in Grellgrün und Blau. Er sagte empört: »Heh, Macker, lass uns weiterpennen!«

»Geht nicht«, sagte Grau. »Ich brauch mal ein paar Tipps.«

»Aber Jakob hat gesagt, wir können hier knacken«, schrillte das Mädchen giftig. »Jakob hat sogar gesagt, wir können hier Möbel reinstellen und, wenn es kalt wird, auch einen Ofen.«

»Wie lange seid ihr denn schon hier?«

»Zwei Monate«, erklärte der Junge.

»Zieht euch erst mal was an«, befahl Grau. »Dann reden wir weiter.«

»Heh«, sagte das Mädchen hell. »Kommt nicht infrage. Du willst bloß eine Gratisnummer. Die Tour kenne ich.«

»Will ich eben nicht«, sagte Grau. »Was kostest du denn überhaupt?«

»Einen Hunderter, aber nur mit Präser.« Das kam sehr schnell.

»Du bist zu dreckig für einen Hunderter«, sagte Grau cool.

»Du kannst auch mich haben«, sagte der Junge, »am Arsch bin ich sauber.«

»Vermutlich kostest du auch hundert Mark.« Graus Stimme war voll Verachtung. »Du hast doch so viel Angst, dass du gleich kotzt.«

Der Junge wandte schnell den Kopf, nahm einen Zipfel der Decke und zog ihn sich über den Bauch. »Stimmt ja gar nicht«, sagte er rau.

»Wer bist du denn überhaupt?«, fragte das Mädchen neugierig.

»Ich bin beruflich hier«, sagte Grau grob. »Zieht euch was an. Aber dalli!«

»Mensch, wo sollen wir denn hin?« Das Mädchen ging jetzt heftig in die Defensive. Sie richtete sich auf und sah Grau scharf an, als wollte sie ihn ihrerseits einschüchtern.

»Ich werfe euch nicht hinaus«, beruhigte Grau sie. »Aber irgendwann solltet ihr schließlich wieder nach Hause gehen. Wo seid ihr denn zu Hause?«

Der Junge wollte offenbar nicht antworten und sah das Mädchen beschwörend an. Er sagte ausweichend: »Ich bin unheimlich down.«

»Und ich bin müde«, kam ihm das Mädchen zu Hilfe. »Du siehst auch so aus, als hättest du durchgemacht.«

»Habe ich auch«, gab Grau zu. Er zündete eine Zigarette an und hockte sich auf die Fersen. »Ich stinke nach Whiskey und Kneipe und billigem Parfüm. Wie lange schlaft ihr schon hier unten?«

»Die Punkies oben im dritten sind ganz nett. Aber die haben grade Besuch aus München und deshalb müssen wir hier im Keller pennen. Wenn der Besuch endlich abhaut, können wir wieder rauf. Die sind wirklich nett zu uns. Bist du Alki?«

»Nein, bin ich nicht«, sagte Grau. »Nur manchmal, wenn mir alles zum Hals raushängt, mache ich einen drauf.«

»Und dann traust du dich nicht mehr nach Hause!«, höhnte der Junge.

»Ich habe keine Familie«, sagte Grau leise. »Also red nicht so einen Scheiß.«

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte das Mädchen ablenkend.

»Kurz nach sieben.«

»Wieso bist du denn so früh unterwegs?«, fragte der Junge.

»Der Besitzer ist mein Freund. Die Behörden wollen von ihm wissen, wer hier wohnt, wie viele das sind und woher sie kommen und so weiter. Außerdem wird hier Gas abgezapft und Strom, aber kein Mensch bezahlt einen Pfennig. Das berappt alles mein Freund. Also muss er wenigstens wissen, was los ist in diesem Kasten.«

»Und dann holst du die Bullen!«, stellte der Junge wütend fest. »Und die schmeißen uns dann raus. Du reißt den Scheiß hier auseinander und baust teure Wohnungen. Ich weiß doch, wie das läuft.«

»So läuft es eben nicht«, widersprach ihm Grau. »Jedenfalls nicht bei mir.«

»Mir ist kalt«, wimmerte das Mädchen. Sie zog die Decke über ihre kleinen Brüste hoch.

»Kennst du die da oben auch, diese Indianer?«, fragte der Junge plötzlich begierig. »Die im vierten?«

»Du meinst die Peruaner?«, fragte Grau lächelnd. Du lieber Himmel, das läuft ja wie am Schnürchen. »Nein, die kenne ich noch nicht. Wieso? Sind das gute Typen?«

»Na ja, sie sollen irgendwie cool sein. Sie haben Koks, jede Menge Koks. Sie haben es im Haus verteilt und sie …«

»Wir haben nichts gekriegt«, maulte das Mädchen.

»Wir waren noch so spät am Bahnhof, weil wir ein paar alte Macker angebaggert haben. Und dann haben wir nichts mehr gekriegt, weil es schon zwei Uhr durch war. Aber heute kriegen wir was, hat Mieze gesagt. Die Indianer machen ja keinen Schritt aus der Wohnung, wir müssen uns an Mieze halten.«

Mieze!, dachte Grau. »Ihr könnt euch doch auch etwas kaufen«, sagte er und warf ihnen einen Hundertmarkschein auf ihre Decken.

»Dafür kriegst du rein gar nichts«, murrte der Junge.

»Was soll eigentlich diese ständige Motzerei?«, fuhr Grau ihn an. »Wenn ich euch einen Hunderter hinschmeiße, dann eben einen Hunderter, kapiert? Du solltest aufhören, mich anzumachen, sonst schmeiße ich dich in den Rinnstein. Wenn du schlecht gelaunt bist, ist das dein Bier. Lass es nicht an mir aus, klar? Ich wollte bloß fragen, ob ihr einen Joint habt.«

»Für einen Hunni?« Der Junge war immer noch misstrauisch.

»Hör doch endlich auf zu motzen«, sagte das Mädchen klagend. »Wenn er einen Joint will, dann kann er doch einen haben.« Sie kramte in ihren Klamotten herum.

»Gutes Zeug?«, fragte Grau.

»Na ja, es geht so«, antwortete das Mädchen.

»Zieht euch endlich was an«, sagte Grau erneut. »Hier unten ist es feucht und kalt.«

Das Mädchen gab ihm etwas Hasch und er betrachtete den kleinen braunen Krümel auf seiner Handfläche. Er hatte noch nie im Leben Haschisch geraucht, es hatte ihn einfach nicht gereizt. Nun nahm er eine Zigarette, zerbröselte sie und vermischte das Haschisch mit dem Tabak. Das Mädchen warf Zigarettenpapierblättchen in seine Richtung und Grau versuchte mühsam, eine Zigarette zu drehen. Es gelang einigermaßen.

»Das hast du auch noch nicht oft gemacht.« Das Mädchen hatte ihn durchschaut. »Du hast sogar den Filter vergessen.«

»Stimmt«, gab Grau zu. Er zündete die Zigarette trotzdem an. Sie schmeckte süßlich fade, roch entfernt nach Vanille. »Das ist aber gar nicht gut, das Zeug«, behauptete er. »Wollt ihr denn nie mehr nach Hause?«, fing er plötzlich wieder an.

»Nein«, antwortete der Junge kurz und bündig. »Hast du einen Job für uns? Egal was. Hast du einen?«

Grau schüttelte den Kopf. »Wenn ich euch einen Job gebe, kommen die Bullen, weil sie nach euch fahnden. Dann sitze ich mit drin.«

»Meine Eltern suchen nicht nach mir«, versicherte ihm der Junge hastig. »Die sind froh, dass ich abgehauen bin. Zoras Eltern gibt es nicht. Ihre Eltern sind ein Waisenhaus. Also, wenn du einen Job hast …«

»Mal sehen«, sagte Grau lapidar. »Haben die Peruaner da oben wirklich so viel Koks?«

»Irgendeine aus dem Haus hat behauptet, sie hätten eine Zuckerdose auf dem Tisch stehen, voll mit dem Zeug. Aber was ist, wenn sie Zyankali druntergemischt haben?«

»Niemals«, widersprach Zora zornig. »Die nehmen es doch selber. Also ich sniefe es jedenfalls, wenn ich es kriege.«

»Spritzt ihr auch?«, fragte Grau.

»Auch, aber selten. Zu teuer.« Der Junge gähnte ausgiebig und schüttelte sich dann, weil er fror.

»Wie ist das mit Aids?«

Der Junge wurde den Bruchteil einer Sekunde lang starr. »Was soll das? Wenn wir mit Präser arbeiten, geht das doch. Außerdem ist Aids ja nicht schnell. Du kannst es haben und trotzdem alt werden.«

»Das ist falsch«, widersprach Grau. »In zehn Jahren bist du damit tot.«

»Ha!« Zora triumphierte. »Was ich immer gesagt habe.«

»Was soll’s?«, fragte der Junge laut. »Und wenn schon?«

»Wieso sind die Peruaner eigentlich hier?«

»Mieze bedient sie. Sie hat gesagt, die wären ihre Gäste für ein paar Tage. Sie geht auch nicht mehr anschaffen, sie ist nur noch für die da. Geht einkaufen, Bier und Schnaps und so was. Sie sagt, sie kriegt eine Hundertdollarnote für eine Nummer, sie sagt auch, die Indianer rammeln wie die Kaninchen. Für jeden Scheiß kriegt sie einen Hunderter. Es ist nämlich ihre Wohnung. Mieze sagt, sie zahlen sogar Miete.«

»Wie alt ist Mieze denn?«

»Achtzehn«, berichtete Zora. »Die ist echt gut drauf, richtig geil. So ein Typ will ich auch mal sein. Die zockt alle ab, wirklich alle.«

Eichhörnchen hatte mal gesagt: »Papi, wenn du mich suchst, musst du mich am dreckigsten Ort der Stadt suchen, zwischen Müll und lauter versifften Typen.«

»Was schätzt ihr, wie viele Leute im Haus sind?«

»Mindestens hundert«, sagte der Junge schnell.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Er heißt Gerhard, aber ich sage Geri«, mischte sich Zora ein. »Du bist kein Bulle?«

»Nein«, versicherte Grau, »wirklich nicht. Nun zieht euch endlich was an, ich fange selber an zu frieren, wenn ich euch so sehe.«

Sie standen auf, rafften ihre Klamotten zusammen und Geri murmelte: »Ich hab überhaupt keine Lust mehr, an den Scheißbahnhof zu gehen. Dauernd diese Bullen in Zivil.«

»Dann bleib doch einfach hier«, schlug Grau vor. »Ihr könnt mir bei der Volkszählung helfen, ich kann euch etwas bezahlen, wenn ihr wollt. Wie viel macht ihr so am Tag?«

»Manchmal vierhundert«, sagte Zora schnell.

»Zweihundert. Ist das okay?«

Geri nickte. »Das ist schon in Ordnung. Was müssen wir machen?«

»Erst mal gar nichts«, murmelte Grau. »Wir können jetzt nicht alle einfach aufwecken, die schlagen uns ja tot. Wir könnten erst einmal eine Liste anfangen.«

»Na gut«, sagte Zora munter, »also eine Liste. Ich habe ein Stück Papier und einen Kuli. Also, dann fangen wir mal mit uns hier an. Dann im Erdgeschoss rechts sind vier Familien. Die Leute sagen, es sind Afghanen. Sie sprechen kein Wort Deutsch, ich glaube, die haben auch Angst. Ich schätze mal, das sind mit Kindern glatt dreißig Leute, oder?«

»Dreißig kannst du einsetzen«, nickte Geri. »Dann sind gegenüber die Skins. O Mann, das sind schlimme Finger.«

»Wie viele?«, wollte Grau wissen.

»Acht, würde ich sagen.« Geri begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er machte es sehr geschickt mit einer Hand. »Die schlagen dir eins auf die Fresse, wenn du sie bloß fragst, wie viel Uhr es ist. Darüber hausen die Penner. Das sind lustige Typen und sie machen auch nie Stunk, die wollen einfach nur ihre Ruhe. Gegenüber, warte mal …«

Zora schrieb sehr konzentriert an der Liste. Sie kamen auf hundertzweiunddreißig Personen.

Geri sagte vorsichtig: »Genau ist das aber nicht, denn manchmal kommen Leute, die einfach keine Bude haben und keinen Platz zum Pennen. Man müsste jemanden fragen, der genau weiß, was im Haus los ist.«

»Bei wem könnte ich mich denn erkundigen?«, fragte Grau.

Er hatte erreicht, was er wollte, er hatte so etwas wie eine kühle, etwas entspannte Atmosphäre geschaffen, er war in das Haus eingetaucht.

»Fang einfach bei Mieze an«, schlug Zora vor. »Die nennen sie immer die Mutter der Kompanie.«

»Wann steht Mieze denn auf?«

»So um zehn rum«, überlegte Geri.

»Was passiert mit diesem Haus?«, wollte Zora plötzlich wissen.

»Wahrscheinlich werden wir es umbauen. Das hat aber noch zwei oder drei Jahre Zeit. Mir ist hier unten kalt, wollen wir nicht raufgehen zu den Pennern?«

»Gut«, entschied die kleine Zora.

»Da können wir auch was zu essen kriegen«, sagte Geri. »Die haben gestern Knäckebrot und Sauerkraut geklaut.«

»Kein Sauerkraut, kein Knäckebrot«, entschied Grau. »Gehst du für uns einkaufen, Zora?«

»Was willst du denn?«

»Milch, Käse, Eier, Butter und solche Sachen. Und Brötchen. Bring ein paar Pullen für die Penner mit.«

»Oh«, sagte Zora erfreut, »das ist ein Wort. Und das Geld?«

Eichhörnchen hat auch so gelebt, dachte Grau. Ich muss die Kinder kaufen, ich muss sie betören.

»Wartet mal«, sagte er. Er öffnete den Gürtel seiner Hose und zog ihn aus den Schlaufen. Er öffnete den Reißverschluss an der Innenseite und nahm zwei Hundertmarkscheine heraus. Er gab sie Zora und sagte beiläufig: »Lass dir bitte eine Quittung geben. Und bring Zigaretten mit. Am besten Gauloises ohne Filter. Auch Zigaretten für euch und Tabak und so.«

Er sah, wie sie auf ihn und den Geldgürtel starrten. »Was ist? Wollt ihr etwa doch nicht?«

»Doch«, sagte Zora und schaute irgendwohin. Dann stand sie auf.

Das Treppenhaus war ein schmutziger Albtraum, die Wände waren von der Decke bis zu den Holzdielen vollgesprüht mit Tags. Grau las den ersten Spruch: Lieber ein Geschwür am After als ein deutscher Burschenschaftler. In Grellpink. Darüber in Schwarz: Hitler war Scheisse!, daneben: Ja, das stimmt. Für die Juden!

»Bis gleich«, unterbrach Zora seine Betrachtungen und verschwand erstaunlich flink.

Grau sah ihr nach und registrierte, dass die Haustür nicht abgeschlossen war. Also war Sigrid bestimmt schon im Haus.

»Geile Sprüche, was?«, fragte Geri. Es klang stolz.

»Sagenhaft«, nickte Grau. »Gefällt dir denn dein Leben in Berlin?«

»Na klar«, sagte Geri und grinste ihn an. »Ist doch geil, oder. Ich tue, was ich will, ich schlafe, wann ich will. Einfach super!«

»Das ist doch was«, sagte Grau ironisch.

Sie gingen langsam die Treppe hinauf. Jemand hatte in Rot und Blau mit kräftigen runden Buchstaben gemalt: Das Leben ist ein Geschenk. Also kann damit machen, was ich will.

Auf den Stufen lag Gerümpel, Grau stieg über Lumpen, über Bruchstücke von alten Möbeln, über Haufen von Pappe. Als er den ersten Stock erreicht hatte, drehte er sich unvermittelt zu Geri um. Der hatte ein kurzes Stück verrostetes Wasserrohr in der Hand, sein Gesicht war totenblass.

Grau erschrak zutiefst und er hatte das Gefühl, dass sein Herz zu schlagen aufhörte. Er räusperte sich. »Lass doch den Unsinn!«

»Wieso?«, fragte der Junge fast tonlos und sichtlich verkrampft.

Grau überlegte, ob er es wagen könnte, Geri zu berühren. Dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast doch erlebt, dass ich euch vertraue. Warum willst du jetzt so was machen?«

Geri ließ das Rohr fallen, es polterte unglaublich laut ein paar Stufen hinunter, und dann sagte er: »Du gehst wieder weg.«

»Woher willst du das denn wissen?«

Es war zehn Minuten vor acht und Grau musste pünktlich sein. Aber er geriet nicht in Panik. Er fühlte sich unglaublich sicher in diesem lautlosen Haus, so sicher wie in Abrahams Schoß. »Es wäre auch nicht sehr viel Geld«, erklärte er Geri, drehte sich wieder um und ging weiter.

Im zweiten Stock lag links die Behausung der Penner. Geri ging jetzt vor Grau her und drückte die Wohnungstür einfach auf. Er sagte: »Kein Mensch hat hier Schlüssel. Die haben alle Schlösser herausgebrochen. Das finde ich gut.«

Die Wohnung war dunkel, es stank intensiv nach irgendetwas, das Grau nicht identifizieren konnte.

»Vorsicht«, warnte Geri. »Die liegen hier überall auf dem Boden rum.«

»Gibt es denn irgendeinen Raum, in dem keiner rumliegt?«

»Ja. Dort hinten ist so eine Art Balkon, der ist so klein, dass nur einer reinpasst. Und da ist immer Atze. Der macht uns bestimmt Platz.«

»Na denn«, sagte Grau.

»Moment«, hörte er Geri irgendwo vor sich sagen. »Die haben Decken vor die Fenster gehängt. Oh, Scheiße, hier liegt was. Aha, eine Hand. Also, du musst einfach drübersteigen.« Dann tauchte vor ihnen plötzlich Licht auf.

Es war ein Wintergarten, vollgestellt mit Gerümpel. In der Tür lag Sigrid auf einer alten Decke und starrte Grau höchst amüsiert mit weit offenen Augen an.

Grau grinste. »Es ist alles okay. Jetzt kann ich was sehen, jetzt hat die Welt mich wieder. Die Sache macht echte Fortschritte.«

»Was ist denn los?«, fragte jemand, der neben Sigrid lag. Er gähnte laut.

»Atze, ich bin’s, Geri. Wir brauchen mal diesen Platz. Kannst du dich woanders hinlegen?«

»Na sicher«, sagte der Mann. »Wie viel Uhr ist es denn?«

Grau half aus. »Gleich acht.«

»Dann haue ich sowieso ab«, krächzte Atze. »Ich kriege heute Suppe und Brot bei den Barmherzigen Schwestern. Mittags wollen sie mir sogar neue Klamotten geben.«

»Bleib lieber hier, hier gibt’s gleich Frühstück«, verriet ihm Geri. »Dann gehste mittags zu den Schwestern.«

»Wenn du meinst«, sagte Atze gutmütig. Er war etwa zwanzig Jahre alt. Er verschwand in der dunklen Wohnung. Sigrid blieb einfach liegen. Sie setzte die Whiskeyflasche an, trank etwas, rülpste laut, grinste Grau an und schloss die Augen wie ein sattes Kind. Atze fluchte im Hintergrund: »Mensch, Kalle, rutsch doch mal!«

»Hast du Kinder?«, fragte Geri.

»Ja«, sagte Grau und hockte sich auf einen Stapel Stühle.

»Mehrere?«

»Nein. Nur eine Tochter.«

»Ist die gut drauf?«

»Sie ist tot.«

»Mensch, eh, wie?«

»Sie ist tot«, wiederholte Grau störrisch. »Heroin.«

»Kauf ich nicht«, versicherte ihm Geri, dann erschrak er: »O Scheiße, Mann, tut mir leid. Ich wusste ja nicht …«

»Macht nichts«, beruhigte ihn Grau.

»Hast du geweint?«, fragte Geri und sein Kindergesicht war ganz starr. Er sah Grau nicht an, er starrte durch die Fenster, deren Scheiben zerbrochen waren.

»Ja«, sagte Grau. »Aber nicht sofort. Erst später, viel später.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Ich glaube, zwei Monate. Ich war im Frühling in den Alpen, in einem Hochtal. Es war ganz zartgrün und ich habe daran gedacht, dass meine Tochter das immer geliebt hat. Dann habe ich geweint. Stundenlang. Jetzt hab ich es wieder verlernt.«

»Ich habe es auch verlernt«, gestand Geri. »Wie hieß sie?«

»Eichhörnchen«, sagte Grau. »Wir nannten sie nur Eichhörnchen.«

»Und jetzt? Ich meine, was denkst du denn von Heroin?«

»Es ist tödlich«, sagte Grau fest. »Das Schlimmste ist: Es versaut dein ganzes Leben, du kommst gar nicht mehr zum Leben. Ach, vergiss es.«

»Was ist mit Kokain?«

»O Junge, nimm mich doch nicht so ins Gebet. Ich glaube, wenn du Rauschgift als Krücke benutzt, bist du in jedem Fall im Eimer.«

Geri antwortete nicht.

Dann raschelte es hinter ihnen und Zora rief begeistert: »Ich habe hundertachtzig Mark verpulvert.« Sie schleppte eine Unmenge Plastiktüten.

»Wo kann ich denn hier mal pinkeln?«, fragte Grau beiläufig.

»Neben der Eingangstür ist ein Lokus«, erklärte ihm Zora. »Aber beeil dich, es gibt Frühstück.«

»Ich muss auch mal pinkeln«, knurrte Sigrid. »Ich muss sogar sehr dringend pinkeln.« Sie stand auf, versperrte Grau aufdringlich den Weg und fummelte an ihrem Rock herum.

»Machen Sie doch schnell«, sagte Grau grob.

»O Mann«, keifte sie zurück, »was kann ich denn für deine schlechte Laune?«

»Er hat keine schlechte Laune«, sagte Zora mild. »Er ist unser Gönner.«

»Kinderficker«, schnaubte Sigrid.

»Halt die Schnauze!«, fuhr Geri sie an.

Sigrid drehte sich um und ging vor Grau her. Hinter ihnen husteten die Männer, räusperten sich laut, stöhnten behaglich, brabbelten vor sich hin oder schimpften wegen nichtiger Dinge.

»Heh«, rief Zora laut. »Heh, ihr Penner. Es gibt Brötchen und Milch, Wurst und Käse. Wer gut drauf ist, kriegt Wein. Alles kostenlos.«

»Mein Gott, wo ist Milan?«, fragte Sigrid vor der Tür voller Angst. »Hat er es geschafft?«

»Wahrscheinlich. Mein Weg war jedenfalls kinderleicht.«

»Meiner auch. Aber wo zum Teufel steckt Milan?«

Milan stand auf der Treppe zum Keller und grinste fröhlich. Sigrid umarmte ihn. »Es geht doch ganz leicht«, sagte er behutsam.

»Mach schnell, ich habe keine Zeit«, zischte Grau. »Ich muss wieder rauf.«

»Ich bin im Erdgeschoss bei den Skins«, erklärte Milan. »Es ist dort relativ sicher, solange sie zugedröhnt sind. Sie haben ein Viertelpfund Marihuana in Gemüsebrühe gekocht und sind noch alle zu. Was ist mit dem vierten Stock?«

»Eine Wohnung«, sagte Grau. »Das Mädchen heißt Mieze, sie hat die Peruaner aufgenommen. Sie verpflegt sie auch und so. Sie steht ungefähr um zehn Uhr auf.«

Milan überlegte. »Das ist zu spät. Zwei Stunden sind zu lange. Kannst du versuchen, eher Kontakt zu bekommen? In einer halben Stunde etwa?«

»Ich versuche es«, versprach Grau. »Wie sieht es denn draußen aus?«

»Mehmet hat sechzehn Autos herumstehen, die Peruaner haben also nicht den Hauch einer Chance. Weißt du, wie diese Wohnung im vierten aussieht?«

»Ich weiß es«, trumpfte Sigrid auf. »Also: ganz schmaler, kurzer Flur. Erste Tür links das Bad. Rechts ist nur eine Tür ins Schlafzimmer. Geradeaus das Wohnzimmer. Sonst nichts. Atze war drin, Atze hat es mir gesagt.«

»Wir müssen uns festlegen.« Milan machte jetzt Druck. »Also: Zwischen halb neun und neun kommt der Kontakt zu Mieze. Das machst du, Grau. Okay? Wir müssen versuchen, sie auszutauschen, auch klar? Sigrid, Täubchen, du hockst ab neun Uhr besoffen auf der Treppe vom dritten zum vierten Stock. Egal, was passiert, du hockst da. Okay? Ich mache den Pendler.«

»Weiß jemand, dass wir hier drin sind?«

»Von Mehmets Leuten jedenfalls keiner. Aber das regle ich jetzt. Ich sage ihnen, sie sollen einen leeren Wagen um die Ecke stellen. Sie sollen die Schnauze halten und nicht eingreifen.«

»Gut so«, lobte ihn Grau. »Sind die Peruaner bewaffnet? Weiß das jemand?«

»Keine Ahnung. Aber sie werden garantiert bewaffnet sein. Wir müssen also nach neun Uhr schnell entscheiden. Gut so? Also, alle zurück auf eure Plätze.«

Sie trennten sich, Grau stieg vor Sigrid her wieder die Treppe hinauf. »Riskiere nicht zu viel«, ermahnte er sie. Er ging voraus in den Wintergarten und bemerkte im Augenwinkel, dass Sigrid sich wieder auf ihre Decke legte und so tat, als wollte sie weiterschlafen.

Zora wirkte wie eine gütige kleine Mama, als sie die Brötchen verteilte, Milch und Wein eingoss. Die Penner waren sehr verlegen.

Grau dachte: Ich habe nicht mehr viel Zeit, ich muss es schnell durchziehen. Jetzt sind sie alle noch träge von der Nacht. Die Peruaner werden irgendwann merken, dass sie eingekreist sind. Sie werden Koks schnupfen und sich wie Helden aufführen. Dabei werden sie möglicherweise krepieren, weil sie dafür bezahlt werden. Dabei wird auch Meike draufgehen, weil sie ihnen dann gleichgültig ist. Ich habe keine Zeit mehr!

Zora lag jetzt mit geschlossenen Augen auf dem Boden und wirkte angespannt, Geri rauchte und starrte gleichgültig ins Licht. »Ihr geht es nicht gut«, sagte er. »Sie hat immer Schmerzen, wenn sie ihre Tage kriegt.«

»Liebst du sie?«

»Weiß ich nicht«, sagte Geri. »Vielleicht.«

»Tut es weh, wenn sie mit einem anderen Macker weggeht?«

»Ja, manchmal.«

»Schmierst du mir ein Brötchen mit Leberwurst?«

»Na sicher«, sagte Geri.

Grau aß, Geri rauchte, sie schwiegen und starrten vor sich hin. Die Zeit kroch geradezu.

Grau überlegte fieberhaft: Wenn ich warte, bis das ganze Haus wach ist, wird im Treppenhaus zu viel Betrieb sein, ich werde enorme Schwierigkeiten kriegen. Vor allem, wenn ich Meike erwische und mit ihr türmen will.

Dann dachte er an Milans Zeitvorgaben und sank zurück auf das uralte Kissen, auf dem er hockte. Er wünschte sich eine Dusche. Ich stinke wie ein Schwein, dachte er! Dann wies er sich selbst zurecht: Du alter Egoist. Hättest beinahe verdrängt, dass es Milan gibt und Sigrid. Verdammt, sie werden dafür sorgen, dass alles glattgeht!

Er fragte beiläufig: »Ich habe neulich gelesen, dass die Straßenkids hier in Berlin Spaghetti mit Katzen- und Hundefutter essen. Stimmt das?«

»Sicher.« Geri nickte. »Sicher. Wir haben das hier auch schon gemacht. Wenn du Salz und Pfeffer hast, schmeckt es gut. Es ist sauberer als manche Konserven für Menschen. Das kommt, weil Tiernahrung dauernd kontrolliert wird. Das schmeckt nicht schlecht. Ein alter Macker hat mir gesagt, dass sie nach dem Krieg noch viel Schlimmeres gegessen haben. Därme zum Beispiel. Ich hab gelesen, dass irgendwo auch Menschen Menschen fressen. Heute noch. Aber man weiß ja nicht, ob das stimmt. Hast du wirklich keinen Job für uns?«

»Ich denke darüber nach«, versprach Grau. »Was kannst du denn?«

»Alles«, sagte er.

»Was hast du gelernt?«

»Nichts. Aber ich kann alles und ich arbeite auch alles.«

»Du willst raus hier, nicht wahr?«

Geri nickte heftig.

»Und deine Eltern?«

»Die sind arbeitslos und saufen. Sie schlagen mich auch. Zora und ich können als Spüler gehen oder wir arbeiten bei reichen Leuten im Garten. Wir brauchen auch keine Wohnung, nur Arbeit.«

»Wo bist du heute Abend?«

»Am Bahnhof. Du kannst dort nach mir fragen, mich kennen sie alle.«

»Ich werde fragen«, versprach Grau. Dann schwiegen sie wieder.

Um Viertel vor neun stieß er Zora an und sagte betont munter: »Ist es denn nicht einfacher, du gehst jetzt Mieze holen und wir machen die Liste schnell komplett? Ich kann dann abhauen. Ich brauche mein Bett.«

»Mein Bauch spielt verrückt«, flüsterte sie. »Warum gehst du nicht selber rauf zu Mieze?«

Grau war einen Augenblick lang in Versuchung, ihr die Situation zu erklären, aber dann sagte er grob: »Ich mag einfach keine Peruaner.«

»Ja, okay«, sagte sie flach und stand auf. »Ich geh Mieze mal holen.« Sie schlich hinaus.

»Danke«, sagte Grau. Er stiefelte durch die Wohnung zwischen den laut miteinander redenden Pennern hindurch. Im Treppenhaus setzte er sich auf die Stufen, die nach oben führten. Er musste sich zwingen, nicht zu zapplig zu sein, seine Aufregung wuchs von Minute zu Minute.

Dann hörte er weiter oben zwei Frauenstimmen. Die eine Frau sagte aggressiv: »Wieso? Die wollen uns garantiert rausschmeißen.« Dann die andere: »Nein, sie wollen erst einmal irgendetwas anderes.« Das war Zora.

Grau stand auf und lehnte sich gegen die Wand. Hector hatte gesagt: »Sie müssen Gewalt austeilen, schnell und resolut!«

Zora lief vor einer langbeinigen, langhaarigen Blonden her, die, in Jeans und einem grellroten Shirt, sehr selbstsicher die Treppe herunterkam.

»Grau«, sagte er. »Hallo.«

»Wir werden geräumt, nicht wahr?«, fragte Mieze lauernd. Sie sprach leise, misstrauisch.

»Nein«, sagte Grau. »Es geht um ein anderes Problem in diesem Haus.« Er sah ihre hellen, aufmerksamen Augen und hoffte, dass seine Geschichte glaubhaft war. »Es geht um Wasser und Strom. Um all das, womit dieses Haus versorgt wird. Also auch um Müllabfuhr. Kennen Sie den Verwalter dieses Hauses?«

Mieze stand ein wenig breitbeinig, mit schmalen Augen, als wäre sie bereit zum Kampf. »Da war mal jemand, das ist so ein, zwei Jahre her. Wieso Wasser? Wieso Strom?«

Grau grinste. »Die städtischen Versorgungsbetriebe haben es nicht so gern, wenn zwischen frischen Eiern ein faules liegt. Dann fragen sie nach, wem es gehört, wer es verwaltet, wer da wohnt. Jedes Mal gibt es Stunk. Jetzt streiten Sie um Gottes willen nicht ab, dass hier Wasser und Strom wild angezapft werden. Und noch etwas: Wenn Sie glauben, ich mache diesen Job gern, dann sind Sie auf dem Holzweg. Vergessen Sie nicht: Wenn wir zwei uns schnell einig werden, ist das für Sie nur von Vorteil. Mir ist es letztlich scheißegal.

Also, ich brauche alle Gruppen, die hier hausen. Ich brauche die genaue Zahl der Wasseranschlüsse, der Gasanschlüsse. Wenn meine Unterlagen für die Stadtverwaltung komplett sind, dann wird nicht gefragt, und kein Inspektor taucht hier auf, um Erbsen zu zählen. Ist das klar? Haben Sie denn die Sprache verloren, verdammt noch mal?« Er stand zwei Stufen unter ihr und war wirklich wütend. »Ich muss auch wissen, ob statisch wichtige Wände herausgerissen worden sind, und …«

»Nein, das ist nicht der Fall«, haspelte sie schnell. »Also, wir können jetzt erst mal bleiben?«

Grau nickte. »Wir werfen Sie nicht raus, wir brauchen nur die Bestandsaufnahme. Das dauert fünf Minuten. Also: Geht das oder geht das nicht? Überleg nicht zu lange, Mädchen. Ich bin erstens kinderlieb und zweitens kenn ich die Schwierigkeiten des Lebens.«

Er wusste genau, dass seine Geschichte ziemlich verrückt klang, wusste aber auch, dass es eine typische Verwaltungs-Realsatire war. So etwas hatte er schon erlebt und für die Zeitung darüber geschrieben.

»Wieso esst ihr nicht einfach ein Brötchen zusammen und qualmt eine?«, fragte Zora begütigend.

Mieze blockte ab. »Ich muss die da oben versorgen, die werden langsam wach.«

»Also fünf Minuten?«, fragte Grau. »Ich habe Formulare im Wagen, wir füllen sie aus und alles ist in Butter, okay?«

Mieze war immer noch voller Misstrauen, aber sie stimmte widerwillig zu. »Machen wir das so.«

»Zora«, sagte Grau, »ich hab mir die Sache überlegt, vielleicht habe ich doch einen Job für dich und Geri. Wartet auf mich, bitte.« Es sollte ein Zeichen für Zora sein, zu verschwinden, und er hoffte, sie würde begreifen.

Sie begriff. »Super!«, rief sie und verschwand in der Wohnung der Penner.

»Wo ist dein Auto?«, fragte Mieze.

»Um die Ecke«, sagte Grau. »Nur fünfzig Meter.« Er ging langsam einen Schritt vor ihr her, drehte sich zu ihr um und stellte nüchtern fest: »Weißt du, nachdem ich dieses Haus hier live erlebe, denke ich, dass diese Stadt knallhart ist, wirklich knallhart. Nix Schnauze mit Herz.«

»Da sagste was«, antwortete Mieze.

»Zora sagte, du hast Peruaner bei dir aufgenommen?«, fragte Grau leichthin.

»Ja, habe ich. Komische Jungs sind das. Reden kaum ein Wort. Hängen sich eine Whiskeyflasche an den Hals, saufen sie halb aus, rülpsen einmal, und das war’s dann. Keine Spur von beschickert. Sie zahlen reinweg alles, die Bude, den Whiskey, mich.«

»Und Koks«, ergänzte Grau grinsend.

Sie lächelte. »Wer sagt das?«

»Geri und Zora, weil die nichts abgekriegt haben gestern Abend.«

»Dann kriegen die heute was«, sagte sie, und es klang wie ein ernstes Versprechen. »Der Stoff ist so rein wie Dash drei: Du fährst jubelnd zum Himmel rauf.«

Sie waren jetzt an der Haustür und traten hinaus in die Sonne.

»Wie kommt man denn an solche Gäste?«, fragte Grau harmlos.

»Kennst du Nase? Kennst du nicht. Das ist ein Bekannter von mir. Läuft dauernd wie ein Dackel ohne Puste durch den Kiez. Weiß alles, kennt alles, kauft alles. Der hat mich gefragt, ob ich mitmache. Zwei oder drei Tage, hat er gesagt. Er sagte: ›Du kannst dich in der Zeit gesundstoßen.‹« Sie kicherte. »Das kann man wörtlich nehmen. Wo ist deine Karre?«

»Um die Ecke«, antwortete Grau mit trockenem Mund.

In dieser Sekunde war Milan auf der anderen Seite von Mieze und fasste sie sofort am Oberarm. »Grüß Gott!«

»Scheiße, die Bullen!«, sagte sie atemlos. Sie ließ den Kopf hängen.

»Keine Bullen«, sagte Grau trocken. »Viel schlimmer. Wie sind die Peruaner bewaffnet?«

»Ich sage nichts.«

»Du sagst sofort was«, knurrte Milan. Sie gingen schnell, das Mädchen hatte keine Chance.

»Also, die haben Pistolen und dann so lange schwarze Dinger, Maschinenpistolen, glaube ich. Wieso seid ihr keine Bullen? Na sicher seid ihr Bullen.«

»Wo sind die Peruaner?«

»Wo? Na, in der Wohnung. Ach so: Sie sitzen im Wohnzimmer.«

»Wo ist Meike?«

»Oh, Scheiße, ihr wisst das!«

»Sicher wissen wir das«, presste Milan hervor. »Und wir retten dir gerade das Leben. Also, wo ist sie?«

»Da ist rechts eine Tür ins Schlafzimmer.«

Sie bogen jetzt um die Ecke. Da stand ein schwerer Mercedes, ein Mann sah sie im Rückspiegel und stieg sofort aus.

Milan schien sich zusammenzukrümmen und Grau sagte hastig: »Nicht schlagen, verdammt noch mal!« Milan entspannte sich wieder und stellte vor: »Das ist Geronimo!«

Geronimo war unglaublich dick, ein Mann wie ein Berg. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, trug sein Haar schulterlang und einen Schnurrbart der Marke Kaiser Wilhelm. Über das ganze Gesicht strahlend, dröhnte er: »Jetzt ist Mieze draußen, jetzt können wir loslegen, oder?«

Grau sah Milan an und schüttelte den Kopf. »Dann geht Meike drauf.«

»Nicht, wenn sie im Schlafzimmer bleibt«, sagte Geronimo. Er hielt in jeder Hand eine Eierhandgranate und lachte. Sein Bauch zitterte mit.

»Der ist doch wahnsinnig«, sagte Grau kaum hörbar.

Milan zischte: »Steck die Scheißdinger ein, Geronimo. Wir ziehen die Sache durch, ohne dich.«

Geronimo war nicht beleidigt. Er lächelte: »Freunde, ich will mich nicht aufdrängen, ich bin sensibel.« Er wandte sich an Grau. »Ich weiß nicht, weshalb du das tust, Kumpel, aber Sundern wird dir die ganze Stadt schenken.«

»Ich bin mit der halben zufrieden«, sagte Grau lächelnd. »Nimm jetzt das Mädchen und bring sie weg. Stell einen neuen Wagen direkt vor das Haus, jetzt, ist das klar?«

Geronimo nickte. »Na, dann steig ein, Kleine, der liebe Gott will dich noch nicht.«

Grau und Milan kehrten um und gingen schnell zurück. »Wir knacken jetzt die Wohnungstür«, sagte Milan.

»Tun wir nicht«, sagte Grau. »Ich werde klopfen und sie werden mir öffnen.«

»Bist du verrückt?«

»Nicht die Spur. Du wirst hinter mir sein, okay?«

Milan nickte und sah ihn sehr aufmerksam an. Dann lächelte er, nahm seinen Arm und murmelte: »Gut so, mein Freund.«

Sie gingen in die Wohnung der Penner und Grau stellte Brot, Brötchen, die Reste von Butter, Wurst und Käse auf ein kleines Brett. Dann sagte er knapp: »Jetzt kommt der Service, Milan, jetzt kannst du was lernen.«

Sigrid saß auf der zweiten Treppe zum vierten Stock und rauchte scheinbar ruhig eine Zigarette.

»Geh einen Absatz tiefer«, flüsterte Milan. »Und du lässt niemanden durch. Stellst jedem ein Bein!«

Jemand hatte grellrot an die Wand gesprüht: Deutschland einig, stark und gross – die Scheisse geht von vorne los!

Überall waren jetzt Stimmen zu hören, Gelächter, Schimpfen, das Geräusch fließender Wasserhähne, das Husten von Leuten, die eindeutig zu viel rauchten. Miezes Wohnung hatte eine sehr neu aussehende Eingangstür mit zwei Sicherheitsschlössern. Sie war natürlich verschlossen.

Grau seufzte. »Heh«, schrie er laut: »Ontbijt! Frühstück! Breakfast! Essen!« Und er klopfte kräftig gegen die Tür. In der Linken hielt er das Brett mit dem Frühstück, seine Rechte hielt den Revolver.

Er war sich augenblicklich der Skurrilität bewusst: In welcher Stellung hatte der seitliche Hebel zu sein, wenn er schießen wollte? War das Ding jetzt gesichert oder nicht? Du bist ein Arsch, dachte er matt, ein fantastischer Krieger.

Dann ging die Tür auf. Der Mann war klein, zierlich und dunkelhäutig, er hatte das typisch breite Gesicht eines Anden-Indianers. Er lächelte ängstlich.

»Kopje Koffie!«, sagte Grau grinsend und mit Nachdruck.

»Ahh«, machte der kleine Mann begeistert und die Tür ging ganz weit auf.

Grau zielte. Er war krampfhaft darauf bedacht, niemanden zu verletzten, und schoss in ein weit offen stehendes, bestens ausgerüstetes leeres Badezimmer. Der Lärm war eindrucksvoll, es schepperte ohrenbetäubend.

Der Mann vor ihm blieb sofort stehen, Grau rannte gegen ihn und drückte ihn vorwärts. Dann schoss er noch einmal, diesmal in die Decke.

»Sit down!«, herrschte er den kleinen Mann an.

Zwei andere saßen auf einem breiten, dunkelgrünen Sofa, ein Dritter links zum Fenster hin in einem Sessel. Der Mann, der ihm die Tür geöffnet hatte, plumpste zunächst in einen Sessel, der mit dem Rücken zu Grau stand. Als er begriff, dass er Grau die Sicht versperrte, wechselte er brav in einen Korbstuhl neben dem Mann am Fenster.

Alle vier trugen die gleiche Kleidung. Ein ordentliches weißes Oberhemd ohne Schlips, dazu eine dunkelgraue Hose und ein braun-grünes Jackett. Sie wirkten spießig und brav, saßen sehr aufrecht und schienen nicht im Geringsten verängstigt, eher demutsvoll. Sie warteten, was Grau entscheiden würde.

Milan war hinter ihm. »Okay. Es läuft sehr glatt.« Dann öffnete er die Tür. »Sie ist da auf dem Bett«, sagte er. »Gefesselt.«

»Hol sie raus, und ab mit euch«, sagte Grau.

Von rechts hörte er Geräusche, Meike sagte erstickt: »O Gott!« Dann Milans Stimme: »Okay, wir gehen!«

»Macht schnell!«, befahl Grau. Es war unglaublich einfach. Rechts auf einer Truhe lagen Waffen. Grau ging hinüber und stellte sein Frühstücksbrett daneben. Es waren die typischen Waffen, wie man sie in amerikanischen Filmen zu sehen bekommt: blauschwarz schimmernd, klobig, kurzläufig, mit gelöcherten Blechen, die wahrscheinlich ein Überhitzen verhindern sollen. Grau verstand nichts davon.

Es waren acht Waffen, für jeden der vier eine große, klobige und ein Revolver. Grau nahm zwei und warf sie aus dem offenen Fenster. Das dauerte ungefähr eine Minute, weil er jedes Mal vier Schritte hin- und zurückgehen musste.

Die kleinen Männer sahen ihm dabei aufmerksam zu. Als der rechts auf dem Sofa sitzende Mann sich bewegte, schoss Grau sofort. Er traf eine an der Wand aufgehängte Topfpflanze, einen Efeu.

»Ganz ruhig.« Er war fast heiter und lächelte die Männer an. »Ihr seid wirklich brav gewesen, Kumpels.«

Er drehte sich um und ging hinaus. Dann zündete er zwei Donnerschläge an und legte sie vor die Tür, bevor er die Treppe hinunterlief.

»Grau!«, schrie Milan unter ihm.

Dann kamen die Explosionen. Sie waren schwer, das Haus zitterte, Grau stand auf der zweiten Treppe und hielt die Augen geschlossen. Er ging drei Stufen zurück und sah hinauf. Die Granaten hatten die Tür aus den Angeln gerissen, es roch sehr scharf.

Im Nebel tauchte einer der Peruaner auf, er hielt etwas in der Hand. Grau schoss auf ihn und dachte: Wie schrecklich einfach das ist …

Der Mann machte den Eindruck, als wäre er irgendwo gegengerannt, er bückte sich nach vorn und umfasste seinen Oberschenkel.

Grau rannte los und hörte, wie der Mann stürzte.

»Grau!«, schrie Milan noch mal.

»Schon gut«, brabbelte er keuchend, »schon gut. Ich komme.« Er sprang, so schnell er konnte, die Treppen hinunter, strauchelte zweimal, hielt dann inne, hörte Stimmengewirr, ohne ausmachen zu können, ob es über oder unter ihm war. Er keuchte heftig vor Anstrengung und hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Irgendwo schrie eine Frau sehr schrill: »Graul« Wahrscheinlich war es Sigrid. Er antwortete nicht und lief plötzlich wieder zurück.

Der Mann, den er getroffen hatte, lag auf dem Treppenabsatz unterhalb der Wohnung von Mieze. Er lag bewegungslos still auf dem Rücken und sein rechtes Bein war merkwürdig vom Körper abgewinkelt, als gehörte es nicht mehr zu ihm. Grau kniete nieder, berührte den Mann vorsichtig an der Schulter und sagte eindringlich: »He, Meister!«

Unter ihm schrie eine jugendliche Stimme überschnappend: »Haut ab, Leute, gleich kommen die Bullen!«

Eine Frau antwortete nörgelnd: »O Scheiße, meine frisch gebratenen Frikadellen!«

Die Haut des Peruaners spannte sich durchsichtig über den hohen Wangenknochen, nicht mehr braun, eher grau. Der Mann atmete kurz und zischend. Am Mittelfinger der rechten Hand trug er einen schweren Silberring mit einem großen gebänderten Achat.

Unten brüllte Milan erneut: »Grau!«

»Alles in Ordnung!«, schrie er zurück. »Hau ab! Sofort!« Er war zornig, weil sie nicht flüchteten.

Die Augenlider des Mannes waren halb geschlossen und Grau sah nur einen grellweißen Streifen der Augen. Das war erschreckend. »He, Junge«, sagte er rau. Er tastete vorsichtig und sehr systematisch den Körper des Mannes ab, aber außer der heftig blutenden Schusswunde am rechten Oberschenkel fand er keinerlei Verletzungen. Die Blutung kam gleichmäßig dick, nicht unter Stößen.

»He«, sagte Grau, fasste ihn am Kinn und bewegte seinen Kopf vorsichtig hin und her. Er kam sich albern und hilflos vor.

Der Mann änderte den Rhythmus seines Atems, sein breiter Mund schmatzte leicht und verzog sich. Dann lief ein dünner Faden Speichel aus dem Mundwinkel. »Na also«, lobte ihn Grau, »es geht doch.«

Der Peruaner begann jetzt zu zucken und wollte nach der Wunde tasten, aber Grau hielt schnell seine Hand fest. »Mach keinen Scheiß, Junge. Das tut doch weh.« Er fasste vorsichtig den rechten Fuß des Verletzten und zog daran, um das Bein flach zu legen. Der Mann stöhnte.

»So ist es gut. Du darfst hier nicht einfach herumliegen. Wach auf!«

Jemand kam, unermüdlich »Grau!« rufend, im Treppenhaus hoch. Es war ein Mann, und offensichtlich rannte er, so schnell er konnte. Es war Geronimo.

»Du musst weg hier«, hauchte er atemlos und hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest. »Die Bullen rücken an.«

Er sah an Grau vorbei und zuckte zusammen, als er den Peruaner sah. »O Gott, Grau«, stöhnte er.

»Der Mann muss verbunden werden«, erklärte Grau lapidar.

»Du bist bekloppt«, hauchte Geronimo. »Milan sagt das auch.«

»Gott sei Dank«, sagte Grau. »Hilf mir mal, ich muss dieses blöde Hosenbein abschneiden.«

»Was machen wir, wenn wir unten nicht mehr rauskommen? Wenn ich das Mehmet erzähle, erklärt er mich für verrückt. Wir können den da doch später noch verarzten.«

Sie schleppten den Verwundeten an Schultern und Beinen die Treppe hinunter. Vor dem Haus stand ein großer BMW. Sie verfrachteten den Peruaner auf den Rücksitz und Grau bemerkte keuchend: »Ihr braucht doch einen, um ihn zu befragen.«

Geronimo kicherte erheitert: »Milan sagt, du bist ein absoluter Träumer. Er hat recht.«

Sie quetschten sich neben den jungen Fahrer, der mit stoischem Gesicht hinter dem Lenkrad saß und sofort Vollgas gab. Als sie mit 160 Stundenkilometern stadteinwärts rasten, kam ihnen eine Kolonne Streifenwagen mit Martinshorn und Blaulicht entgegen.

Geronimo war begeistert: »Also von denen kann man noch was lernen, ihr Timing ist wirklich fantastisch. Sie kommen immer genau zweihundertvierzig Sekunden zu spät. – Und nun erzähl mir mal, Kleiner, was du bis jetzt alles erlebt hast im schönen Berlin.«